
Sexarbeit und Einsamkeit im Alter
Einsamkeit ist ein Zustand, der viele Menschen trifft – unabhängig von Alter, Herkunft oder Lebensumständen. Besonders im Alter kann sich dieses Gefühl jedoch verstärken. Kinder sind oft ausgezogen, der Ehepartner verstorben, und das soziale Netz wird mit den Jahren immer dünner. Die Geschichte von Bernhard, einem Rentner aus der Schweiz, der regelmäßig Sexarbeiterinnen besucht, zeigt eine mögliche Strategie im Umgang mit dieser Einsamkeit. Doch sie wirft auch Fragen auf: über unsere Gesellschaft, über das Altern und darüber, wie wir mit Bedürfnissen umgehen, die wir lieber verschweigen.
Bernhard ist ein Mann in seinen Sechzigern. Nach dem Tod seiner Frau fiel er in eine tiefe Depression. Er zog sich zurück, wollte niemanden sehen, konnte kaum noch seine Tür öffnen. Erst durch eine Therapie kam Bewegung in seinen Zustand. Seine Therapeutin machte einen Vorschlag, der ungewöhnlich, aber für Bernhard letztlich lebensverändernd war: Sie empfahl ihm, Kontakt zu Sexarbeiterinnen aufzunehmen.
Was zuerst nach einem Tabubruch klingt, erwies sich für Bernhard als hilfreich. Es ging nicht nur um Sex, sondern um menschliche Nähe, um Berührung, um ein offenes Ohr. Er berichtet davon, wie er mit einigen der Frauen Freundschaften schloss, wie sie sich unterhielten, sich gegenseitig aus ihrem Leben erzählten. Einige lud er sogar zu Geburtstagsfeiern ein. Die Beziehung war nicht rein körperlich – sie war sozial, emotional, ein Stück Alltag, das er zurückgewann.
Bernhard achtet darauf, mit wem er seine Zeit verbringt. Er besucht nur Frauen, die überzeugend freiwillig in der Branche arbeiten, vermeidet jüngere Frauen und sucht sich gezielt Gesprächspartnerinnen. Das zeugt von einem sensiblen Umgang mit dem Thema – und von dem Wunsch, nicht nur ein Kunde, sondern ein Mensch unter Menschen zu sein.
Einsamkeit im Alter: Ein unterschätztes Problem
Seine Geschichte berührt, weil sie ehrlich ist. Sie zeigt, dass Alter nicht bedeutet, dass Bedürfnisse verschwinden. Im Gegenteil: Gerade im Alter können Berührung und Nähe wichtiger denn je sein. Doch genau diese Bedürfnisse werden in unserer Gesellschaft oft tabuisiert. Es scheint, als dürften alte Menschen keinen Wunsch nach Körperlichkeit mehr haben – eine Haltung, die letztlich in die soziale Isolation führt.
Dabei ist Einsamkeit kein triviales Problem. Zahlreiche Studien belegen, dass chronische Einsamkeit das Risiko für Depressionen, Herzerkrankungen und Demenz deutlich erhöht. Wer allein lebt, hat ein größeres Risiko, früher zu sterben. Es ist also nicht nur eine Frage des emotionalen Wohlbefindens, sondern auch eine der öffentlichen Gesundheit.
Was also tun gegen die Einsamkeit im Alter? Es gibt viele Wege, und keiner ist für alle richtig. Für manche ist es das Ehrenamt, für andere das Fitnessstudio, der Chor oder ein Verein. Für Bernhard war es der Besuch bei Sexarbeiterinnen. Und auch wenn dieser Weg nicht jedem liegt, so zeigt er doch: Es braucht Angebote, die Menschen nicht abwerten, sondern sie in ihrer Lebensrealität abholen.

Altern in Würde: Bedürfnisse anerkennen und ernst nehmen
Sexarbeit ist dabei ein besonders umstrittenes Thema. Doch die Debatte darüber ist oft moralisch aufgeladen. Dabei könnte sie auch pragmatisch geführt werden. Denn wie Bernhards Geschichte zeigt, kann Sexarbeit nicht nur ein kommerzielles Angebot sein, sondern auch ein Ort der Begegnung, der Menschlichkeit. Ein Ort, an dem alte Menschen nicht nur Kunden, sondern wieder Gesprächspartner, Freunde, Geliebte sein dürfen.
Die Gesellschaft muss lernen, offen über das Altern zu sprechen – mit all seinen Facetten. Dazu gehört auch die Sexualität im Alter. Es geht nicht nur um Gesundheit oder Pflege, sondern um Würde, Selbstbestimmung und das Recht auf ein erfülltes Leben bis zum Schluss. Bernhards Geschichte ist ein Appell dafür, das Thema Einsamkeit ernst zu nehmen – und unkonventionelle Wege nicht vorschnell zu verurteilen.
Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen nach echten Begegnungen sehnen. Digitale Kommunikation ersetzt kein Lächeln, keine Umarmung, kein echtes Gespräch. Für ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind, die keine Familie haben oder deren Freunde bereits verstorben sind, wird diese Sehnsucht oft unerträglich. Dann braucht es kreative, mutige Lösungen – und eine Gesellschaft, die diese nicht ausgrenzt, sondern integriert.
In vielen Städten, auch in Wien, gibt es bereits Initiativen gegen Einsamkeit im Alter. Besuchsdienste, Seniorencafés, generationenübergreifende Projekte. Doch oft erreichen diese Angebote nicht alle – sei es wegen Scham, Barrieren oder fehlender Informationen. Deshalb braucht es zusätzliche Angebote, die die Wünsche der Betroffenen ernst nehmen. Dazu kann auch gehören, über Sexualität im Alter offen zu sprechen und Angebote für zwischenmenschliche Nähe zu schaffen.
Für manche Menschen, wie Bernhard, ist Sexarbeit dabei keine letzte Option, sondern ein bewusster Weg. Ein Weg zurück ins Leben, zurück zur Verbindung mit anderen Menschen. Und auch wenn dieser Weg nicht für alle der richtige ist, sollte er als das anerkannt werden, was er sein kann: eine Form der sozialen Teilhabe.
Wir müssen beginnen, Alter nicht als Defizit, sondern als Lebensphase mit eigenen Rechten, Wünschen und Bedürfnissen zu verstehen. Wer älter wird, verliert nicht sein Recht auf Nähe, auf Sexualität, auf Würde. Es ist Zeit, dass wir dies nicht nur in Sonntagsreden anerkennen, sondern auch in unseren Strukturen, Gesetzen und im täglichen Miteinander.
Bernhards Geschichte steht exemplarisch für viele, die ähnlich empfinden, aber schweigen. Sie ist eine Einladung, darüber nachzudenken, wie wir als Gesellschaft mit Einsamkeit umgehen wollen. Und sie zeigt, dass manchmal die ungewöhnlichsten Wege die menschlichsten sein können.

